RP vom 30.10.2018
  Aufführung im XOX-Theater: Vom Leben und Sterben und  Lachen 
    Kleve Mit einer gelungenen Aufführung von  Magnus Vattrodts „Ein großer Aufbruch“ begeisterte das XOX-Ensemble.  Überzeugend vermittelten die Darsteller die ernsten aber auch heiteren Seiten  des Sterbens.
    Von Antje  Thimm
    
    Ein Stück  über das Sterben muss nicht zwingend schwermütig, es kann auch gleichermaßen  ernst, berührend und voll erlösendem Humor sein. Das bewiesen die Darsteller  des XOX-Theaters unter der Regie von Wolfgang Paterok bei ihrer dritten  Aufführung der Bühnenfassung des preisgekrönten Fernsehfilms „Ein großer  Aufbruch“ von Magnus Vattrodt. Im Mittelpunkt steht Holm, ein Mann, der sein  Leben in vollen Zügen genossen hat, sich nun aber mit der Realität einer  tödlichen Krankheit konfrontiert sieht. Aus Angst vor dem langsamen Sterben  beschließt er, in der Schweiz Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen und sein Leben  selbstbestimmt zu beenden.
    Am Vorabend  seiner Abreise lädt er die wichtigsten Menschen seines Lebens zu einem  Abendessen ein, um sich von ihnen zu verabschieden. Er plant ein harmonisches  Zusammensein, doch es kommt anders. Fast alle Eingeladenen wissen zunächst  nichts von Holms gesundheitlicher Lage, fallen dann aus allen Wolken, und jeder  reagiert anders. Womit Holm nicht gerechnet hat: alle unbewältigten Konflikte  seines Lebens kommen auf den Tisch. Seine beiden Töchter, Marie und Charlotte,  bombardieren ihn mit heftigen Emotionen, auch Vorwürfen.
    Seine  Exfrau, die Medizinerin Ella, weiß zwar Bescheid, trägt aber auch viele  Altlasten mit in die Abendgesellschaft, die einen turbulenten dramatischen  Verlauf nimmt. Dafür sorgt auch Holms Beziehung zum Ehepaar Adrian und  Katharina. Seine Affäre mit Katharina fliegt auf, seine finanzielle  Abhängigkeit von Adrian wird offenbar. Holm erkennt, dass er bei seinem Plan  nur an sich selbst gedacht hat. Deutlich zeigt die Geschichte auch, dass  Sterbehilfe als Ausweg mitnichten einfach ist. Schließlich entscheidet Holm  sich, einen natürlichen Tod zu sterben und die Fürsorge seiner Töchter  anzunehmen.
    Alle sieben  Schauspieler waren spürbar ganz und gar in ihre jeweiligen Rollen geschlüpft,  beherrschten vollkommen natürlich das Beziehungsgeflecht der dargestellten  Figuren.
    Was sofort  funktionierte, waren die vielen Gags, die der Autor eingebaut hatte, um dem  Thema die Schwere und das Tabu zu nehmen. Die Zuschauer lachten in diesen  Momenten, und es war erlösend. Manfred Küper als Freund Adrian demonstrierte,  dass zu einem gelungenen Witz auch immer das richtige Timing gehört. „Ich habe  Pflaumen karamellisiert und Kürbis dazu getan, das musst du probieren“, mit  diesem Satz kommt er regelmäßig in hochdramatischen Momenten.
    Klaus  Gerritzen war Holm mit allen Fasern. Eindrucksvoll, wie er Holms Angst vor dem  Sterben schildert, überzeugend, wie ihm der Plan, in die Schweiz zu fahren,  wegbricht und er sich den Konflikten seines Lebens stellt. Brigitte van  Gemmeren ist Katharina, die Holm heimlich liebt und sichtlich in höchster Angst  um ihn ist Mirjam Kirschberger verkörpert Holms Tochter Marie, die eine  erfolgreiche Patentanwältin geworden ist. Voller bitterer Vorwürfe gegen den  Vater tritt sie auf, geradezu explosionsartig hageln ihre Vorhaltungen auch  gegen Vater und Mutter, sie hätten egoistisch gelebt. „Du hast uns nicht  geliebt, du hast nur die Vorstellung von Liebe geliebt“, schleudert sie Holm  entgegen. „Und jetzt sollen wir mit dir letztes Abendmahl feiern“, kommentiert  sie die Situation.
    Die  romantische und chaotische Tochter Charlotte wird dargestellt von Anke Kühl.  Sie zeigt eine Vielzahl von Emotionen, weint um den Vater, ist voll Liebe,  trägt aber auch das Geheimnis ihrer Liebschaft mit Adrian. Der Kanzleichef  Heiko ist Maries Freund, dargestellt von Johannes Himmes. „Ich bin die  Randfigur“, sagt er in einer Szene. Aber er macht in den passenden Augenblicken  die Bemerkungen, die die Zuschauer zum Lachen bringen.
    Pateroks  subtiler Führung ist es zu verdanken, dass kein Lacher unpassend provoziert  wird, dass es ernst bleibt, wo es so sein muss. Ein Beispiel ist der ganz  starke Moment von Johannes Himmes als Heiko, der von seiner verstorbenen  Ehefrau berichtet, die ebenfalls unheilbar krank wie Holm in die Schweiz reisen  wollte. Und warum sie sich dagegen entschied, und warum Sterbehilfe „als  Option“ ein wesentlicher Bestandteil des natürlichen Sterbeprozesses sein kann.  Nebenbei ist im Dialogtext viel Information über die Sterbehilfe, und wie viel  Mut es braucht, diesen Weg zu gehen.
    Für dieses  Hintergrundwissen sorgte Tina von Gimborn-Abbing als Holms geschiedene Frau  Ella. Drogenabhängigkeit, Affären, der Beginn eines neuen Lebens als Ärztin,  und das Bewusstsein, als Mutter von Charlotte und Marie versagt zu haben – das  alles vermittelte die Schauspielerin glaubhaft.
    Die  Zuschauer waren spürbar berührt, langer Applaus.
   
  NRZ vom 16. Oktober 2018 
      Haarsträubende Abgründe
        Das Ensemble des XOX-Theaters spielt Magnus Vattrodts Stück "Ein großer Aufbruch".
        Ein gut gelauntes Sterbestück
        
        von Andreas Daams 
              Kleve. Mag sein, dass das Leben im Grunde ein Witz ist. Der Tod ist es nach landläufiger Meinung eher nicht. Vor allem nicht der eigene. Der Eines anderen hingegen kann durchaus unterhaltsam sein, vor allem in der Literatur, im Film und auf der Bühne. Ob Krimi, Melodram, Action-Unterhaltung, Thriller oder griechisches Drama - überall wird fleißig gestorben.
        So ist das auch in Magnus Vattrodts Stück "Ein großer Aufbruch". Zumindest beinahe. Vattrodt ist erfolgreicher Drehbuchautor, entsprechend war das Stück zunächst ein Fernsehfilm. Filmreif war die Darstellung im XOX-Theater nun zwar nicht, aber höchst ambitioniert und über die Strecke von zwei Stunden meistens recht flott. Dafür sorgte ein exzellent vorbereitetes und ziemlich textsicheres Ensemble, das unter der Regie von Wolfgang Paterok fast pausenlos in Bewegung blieb.
        Wofür es gute Gründe gab. "Ein großer Aufbruch" handelt von einem ehemaligen Entwicklungshelfer (toll: Klaus Gerritzen), der unheilbar krank ist und Freunde und Familie zu einem letzten Abendessen eingeladen hat. Am Tag danach will er in die Schweiz aufbrechen, um dort selbstbestimmt zu sterben.Ein ernstes Thema also. Aber wie es so ist: Wenn man als Zuschauer darauf blickt, sieht man es nicht ungern, wenn die Akteure auf möglichst haarsträubende Abgründe zusteuern.
        Die hat Vattrodt nun zahlreich in seinen Text eingebaut. Da sind die beiden so unterschiedlichen Töchter Marie (Mirjam Kirschberger), eine erfolgreiche Anwältin, die mit ihrem Freund Heiko (Johannes Himmes) nur widerstrebend zum Abendessen kommt, und Charlotte (Anke Kühl), eine planlose (Lebens-)Künstlerin. Ihre Mutter Ella (Tina von Gimborn-Abbing) hat die Familie in Afrika einst verlassen, weil sie heroinabhängig wurde, ist inzwischen aber eine Medizinerin im Ruhestand. Und als gäbe es hier nicht Konfliktpotenzial
      genug, stellt Vattrodt dieser dysfunktionalen Familie noch ein hochneurotisches Pärchen zur Seite. Manfred Küper und Brigitte van Gemmeren spielen diese Eheleute, die ganz und gar auf den Gastgeber fixiert sind und einander eigentlich nur noch verachten, mit ganz wunderbarer Penetranz.
      In gewisser Hinsicht ist der Abschiedsabend also nur der Aufhänger, um die Themen Familie, Liebe, Sex und Geld gekonnt durchzuspielen. Das ist keine neue Erfindung, es gibt ein regelrechtes Genre solcher Stücke und Filme, Yasmina Reza ist damit weltberühmt geworden, und gerade erst lief Sally Potters bitterböser britischer Film "The Party" in guten Kinos. Die zwei Theaterstunden im XOX-Theater sind jedenfalls gut investiert: Man kommt gut gelaunt aus dem Sterbe-Stück und hofft, dass man vor dem persönlichen Lebensende noch viele weitere gute Geschichten zu sehen kriegt.